Vorankündigung


Wäre Freud eine Frau gewesen
Im Fokus: Beziehungen statt Individuen


von Thomas Hess und Christiane Ryffel

In der westlichen Gesellschaft hat der Neoliberalismus eine bedrohliche Anzahl machthungriger Staatsführer einerseits und vereinsamter, glückloser Menschen andererseits hervorgebracht. Egoismus und Gleichgültigkeit gegenüber Minderheiten sind salonfähig geworden. So werden Migrant*innen ohne Wimperzucken in kriegführende Länder zurückgeschickt und auch in demokratischen Staaten ist der politische Rechtsrutsch unübersehbar. Offensichtlich führt die neoliberale Maxime »Jeder ist seines Glückes Schmied« in einem wachsenden Teil der Bevölkerung zu Prozessen der Entsolidarisierung. Was ist da falsch gelaufen? Wo und wie müssten heute die Weichen neu gestellt werden? Das sind unsere zentralen Fragen. Wir gehen ihnen nach, indem wir einen Bogen von 100 Jahren schlagen, d.h. zum Zeitpunkt, als Sigmund Freud seine bahnbrechenden Theorien bekannt machte.

Hätte nämlich eine Frau, z. B. eine Sigrid Freud als denkbare weibliche Alternative zu Sigmund - mit einer ebenso starken Überzeugungskraft - den Boden für eine neue Erklärung menschlichen Verhaltens gelegt, dann wären seither in der Psychologie, Psychiatrie aber auch in den Schulen, Verwaltungen und politischen Strukturen gute Beziehungen – die Kernkompetenz von Frauen – im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden und nicht intrapsychische Mechanismen. Dieser Grundgedanke zieht sich in Form von imaginären Dialogen zwischen Sigrid und Sigmund Freud durch das ganze Buch. Die Betrachtung der verschiedenen Sozialisierungsfelder zeigt, was heute Beziehungen belastet und wo es positive Ausnahmen gibt. Dieses Buch dürfte Sie also interessieren, wenn Sie beruflich oder privat mit Menschen zu tun haben, die nicht ins gesellschaftliche Regelwerk passen oder wenn Sie an gesellschaftspolitischen Schaltstellen sitzen.

Im 1. Teil geht es um die Primärsozialisation: Um ein eigenständig denkender, selbstsicherer und zufriedener Mensch zu werden, braucht es Liebe oder zumindest Wertschätzung. Durch gegenseitigen Austausch zwischen dem Kind und seinen engsten Bezugspersonen, entsteht das soziale und emotionale Fundament von Heranwachsenden. Dieser Prozess hängt wesentlich von den sozialen Bedingungen ab, in denen die Familie lebt. Wenn die Liebe nur von partnerschaftlichen bzw. familiären Problemen überschattet wird, kann Therapie helfen. Dabei erleben wir, dass das Ringen um Liebe und Wertschätzung in jeder Beratung das dominierende Thema ist. Daraus schliessen wir im Sinne von Sigrid Freud, dass nicht nur Paar- und Familientherapien, sondern jede Form von Beratung oder Psychotherapie nicht die Selbstoptimierung, sondern vor allem die Verbesserung der Beziehungen im Fokus haben sollte. Diagnosen sind dabei unwesentlich. So liegt die Verantwortung für einen Weg aus der Krise nicht beim einzelnen, sondern bei der Gemeinschaft der Interaktionspartner*innen.

Doch wenn Liebe und Zuwendung in der Kindheit fehlten, kann Therapie wenig ausrichten. Den Konsequenzen davon wenden wir uns im 2. Teil zu. Langzeitfolgen von Lieblosigkeit in der Kindheit können, aber müssen nicht, in einem Desaster enden. Während der Sekundärsozialisation in Kindergarten und Schule können Hortner*innen, Kindergärtner*innen und Lehrpersonal die Weichen für eine gesunde Weiterentwicklung des Kindes neu stellen. Im Sinne von Sigrid Freuds Beziehungspsychologie schildern wir das anhand aktueller Beispiele.

Im 3. Teil geht es um die Tertiärsozialisation im Bereich der Erwachsenenwelt. Sie findet in der Partnerschaft und im Freundeskreis als informelle Form gegenseitiger sozialer Entwicklungshilfe sowie im Berufsleben statt. In der Arbeitswelt kann eine vorbestehende problematische Rolle von Adoleszenten und Erwachsenen in der Gesellschaft verhärtet werden, indem sie z. B. als »ewiger Looser« oder »gewissenloser CEO« zu einer gesellschaftlichen Belastung oder Gefahr werden. Oder aber es bietet sich die Chance, dass diese Menschen doch noch zufriedenstellend sozial integriert werden. Beides schildern wir anhand konkreter Beispiele. Für Menschen, die keine neue Chance in der Arbeitswelt bekommen, gibt es die Möglichkeit der Psychiatrie. Die angestrebte Reintegration gelingt aber nur unter bestimmten – und leider zu seltenen - Bedingungen.

Die Kombination von beziehungspsychologischer und soziologischer Perspektive verhilft zum Fazit: Es gibt zwar Pädagog*innen sowie einzelne Führungspersonen und Politiker*innen, die dem Beziehungsaspekt ein gewisses Gewicht beimessen. Sie stehen aber zu oft auf verlorenem Posten, da der strukturelle Kontext diese Bemühungen nicht mitträgt oder ihnen entgegenwirkt. Ihn im Sinne einer Sigrid Freud umzubauen, wäre dringend nötig und würde viel persönliches Leid und gesellschaftliche Kosten vermindern.

Bücher im Handel

Patchwork-Familien - Beratung und Therapie

Ein Buch von Thomas Hess und Claudia Starke

 

Das Patchwork-Buch - Wie zwei Familien zusammenwachsen

Ein Buch von Claudia Starke,Thomas Hess, Nadja Belviso

Familienglück oder Chaos pur? Wer Patchwork lebt, muss viele Klippen meistern. Anhand der Geschichte einer Patchwork-Familie bieten die Autoren Erklärungen für häufige Konflikte sowie Rat und Lösungswege aus therapeutischer Sicht. Immer können die Leser nachvollziehen, was sie in ihrer Patchwork-Situation gerade richtig oder falsch machen. Die Autoren zeigen, wie Patchwork gut gelingen kann und bieten eine umfassende, hilfreiche Beratung wie kluge Entscheidungen zu treffen sind.

 

Lehrbuch für die systemische Arbeit mit Paaren

Ein Buch von Thomas Hess

Lern- und Leistungsstörungen im Schulalter

Ein Buch von Thomas Hess

Das "auffällige" Kind zwischen Familie, Schule und Experten

Ein Buchbeitrag von Thomas Hess   

Warum therapeutische Hypnose?

Ein Beitrag von Claudia Starke   

Hungern im Überfluss - Essstörungen in der ambulanten Psychotherapie

Ein Beitrag von Claudia Starke   

Die neuen Verweigerer

ein Buchbeitrag von Thomas Hess   

The European handbook of psychiatry and mental health II

Ein Buchbeitrag von Thomas Hess